„Sie waren Wissenschaftsminister als Tschernobyl explodierte. Was haben Sie aus Krisen gelernt, wovon man heute profitieren könnte?“, fragte ZiB-2-Moderator Martin Thür den langjährigen Nationalratspräsidenten und Bundespräsidenten Heinz Fischer am Ende eines neun Minuten langen Interviews über das Fehlverhalten der Bundesregierung bei zu eiligen und umstrittenen Erlässen zur Milderung und Bewältigung der Corona-Krise.
Die Tschernobylkrise (die sich wenige Tage vor dem höchsten Feiertag der Sozialisten, dem 1. Mai 1986 ereignete) sei mit der Corona-Krise vergleichbar gewesen, meinte Fischer. „Auch damals ist es um die Frage gegangen, ob man Massenversammlungen zulassen kann oder nicht“, erinnerte sich der Ex-Bundespräsident und nannte ein Beispiel: „Ob man den 1. Mai absagen soll oder nicht – und er ist abgesagt worden.“
Tatsächlich? Wahr ist das Gegenteil, denn der damalige Gesundheitsminister Franz Kreuzer (davor langjähriger Chefredakteur der Arbeiterzeitung) hatte alles unternommen, um die bereits ab 28. April bekannten Gefahren zu vertuschen und damit den Wiener Maiaufmarsch durchzudrücken. Der Wiener Rathausplatz war also wenige Tage nach der Katastrophe von Tschernobyl von Zehntausenden Menschen bevölkert, als die hoch radioaktive Wolke Österreich längst erreicht hatte. Die Strahlenverseuchung der Genossen wurde in Kauf genommen.
Dass manche ältere Herren an Erinnerungslücken leiden, ist nicht zu verhindern. Das kann sogar einem ehemaligen Bundespräsidenten passieren. Dass aber ältere Herren in Interviews Tatsachen ins Gegenteil verkehren, hat vermutlich nichts mehr mit Erinnerungslücken zu tun, sondern bestenfalls mit Verdrängung der Realität.
Was den selbsternannten Qualitätssender ORF2 nicht weiter stört.
Das Interview mit Heinz Fischer wurde bereits vor der Sendung aufgezeichnet. Man hätte dem Altpräsidenten einen Gefallen getan, diese Passage aus dem Gespräch herauszuschneiden. Eine bei Qualitätsmedien übliche Recherche zur angeblichen Absage der damaligen Meiaufmärsche im allwissenden Archiv des ORF hätte diesen Fehler binnen weniger Minuten enthüllen können. Was nicht geschah.
Egon Erwin Kisch, vor mehr als einem Jahrhundert bekannt und bewundert als „Der rasende Reporter“ hat schon gewusst: „Zu viel recherchieren haut die besten Geschichten zusammen.“