Stellen Sie sich den zugegeben unwahrscheinlichen Fall vor, dass zum Beispiel slowakische Panzer am Vormittag um 11 Uhr in Wien hereindonnern, oder Journalisten vom Mars in Wien landen. Die Zeitungen in ihren Online-Ausgaben würden am gleichen Tag darüber berichten und Journalisten ausschicken, um weitere Fakten und Hintergründe zum Einmarsch bzw. zur Landung zu recherchieren versuchen, während der ORF weiter gemütlich auf seinem Künglberg dahindöst und erst einmal abwartet. Erst am nächsten(!) Tag und dann erst um 19 Uhr im Wiener Regional-TV „Wien heute“ wird begonnen, darüber im TV zu berichten. Um 19.30 Uhr in der österreichweit relevantesten Nachrichtensendung wird kein Wort zu dem Vorfall verloren und erst in der ZiB2 um 22.00 Uhr am darauffolgenden Tag wird über diesen ungewöhnlichen Fall österreichweit berichtet.
Sie denken sich vermutlich gerade, nein, so kann das niemals stattfinden. Der ORF ist nicht sooooo langsam. Er sieht und definiert sich ja selber nicht als History-Channel in dem Sinn, nur die Nachrichten zu Vorfällen vom Vortag wiederzukauen. Er wird immerhin mit rund 620 Millionen Euro an Gebühren sattsam finanziert und verfügt über eine Heerschar an Mitarbeitern und Journalisten und es kann nicht sein, dass dieses Ereignis erst rund 32(!) Stunden nach seinem Stattfinden Eingang in die vermeintlich aktuelle ORF-TV-Berichterstattung findet.
Ich muss Sie enttäuschen. Der ORF schafft es tatsächlich, über ein wichtiges Ereignis in seinen TV-Kanälen rund 32 Stunden lang nicht zu informieren.
Zugegeben, keine fremde Armee ist in Wien einmarschiert und auch die Außerirdischen sind noch nicht in Wien gelandet. Ein Österreicher mit türkischem Migrationshintergrund hat am 19. Juli um ca. 11.00 Uhr einige Menschen im Wiener Bezirk Leopoldstadt tätlich angegriffen und unter den Angegriffenen befanden sich zumindest ein oder mehrere jüdische Kippaträger und der ORF berichtet erst am nächsten(!) Tag um 19.00 Uhr in "Wien heute" darüber. In der landesweiten ZiB1 wird darüber gar nicht und in der ZiB2 am nächsten Tag auch nur ganz kurz verpackt als Eingangssatz in einem Beitrag über einen Besuch von Juden und Muslimen im KZ Mauthausen berichtet. Für einen eigenen, ausführlicheren Bericht in der ZiB2 hat es auch am 20. Juli noch nicht gereicht. Der Hinweis auf den türkischen Migrationshintergrund des Angreifers fehlte sowohl in "Wien heute" als auch in der ZiB2, genauso wie die Stellungnahme des Präsidenten der Israelitischen Kultusgemeinde, Oskar Deutsch, in der ZiB2, der von einem antisemitischen Motiv ausgeht.
In "Wien heute" wird immerhin erwähnt, dass die Israelitischen Kultusgemeinde (IKG) von einem antisemitischen Motiv ausgeht. IKG-Präsident Deutsch kommt zu Wort und sagt: „… da brauchen wir nicht diskutieren. Das ist ein antisemitischer Angriff…. hat er sich mit Anlauf einen Juden ausgesucht. Was ich nicht will, Gott behüte, dass es erst einen toten Juden braucht, um alle hier zu sensibilisieren.“ Und neben dem vorhandenen sei in Wien zunehmend auch ein islamischer Judenhass spürbar, so Deutsch.
Hallo, wie klar muss oder kann man denn noch ein (aktuell und zukünftig) relevantes, aber noch immer überwiegend mediales Tabuthema thematisieren? Dieses Interview von Herrn Deutsch sollte auch den ORF-Gebührenzahlern in den anderen acht Bundesländern nicht vorenthalten werden.
Mit dem Beenden der selbstgewählten Schweigeperiode von 32 Stunden (von 11 Uhr am 19. Juli bis zur Wien heute Sendung um 19.00 Uhr am 20. Juli) beantwortet der ORF zumindest die von mir im gestrigen Beitrag aufgeworfenen Frage, ob der ORF an mutmaßlich antisemitische Vorfälle unterschiedliche Maßstäbe in der Berichterstattung anlegt. Es bleibt als Vorwurf an den ORF „nur“ mehr das Schneckentempo von 32 Stunden übrig für die Erstellung eines Berichtes zu einem grundsätzlich einfach zu recherchierenden und zu berichtenden relevanten Sachverhalt in Wien.
Da der ORF und andere Medien ansonsten auch nur beim geringsten Verdacht, dass irgendwo in Österreich mutmaßlicher Antisemitismus vorkommt, oder ein Österreicher involviert sein könnte (beispielhaft ist die ausufernde Berichterstattung über die „Liederbücher“ noch in Erinnerung), ein mediales Trommelfeuer inszenieren, ist es unerklärlich, warum sich der ORF in diesem Fall endlos scheinende 32 Stunden lang zurückhält, bevor er im TV darüber berichtet.
Für den Privatsender Servus-TV mit Sitz in Salzburg mit einer kleinen Mannschaft und einem Minibudget im Vergleich zum ORF stellte es keine unüberwindbare Schwierigkeit dar, in seinen 19.20 Uhr Nachrichten am 19. Juli über den Vorfall kurz und sachlich zu berichten. Man sieht daran, es war also grundsätzlich für eine österreichische TV-Anstalt nicht unmöglich.
Der Grund für diese Verzögerungstaktik im ORF erinnert an die Langsamkeit der Berichterstattung über die Silvestervorfälle in Köln. Die Verzögerung wird wohl nicht etwa daran liegen, dass der mutmaßliche Angreifer einen türkischen Migrationshintergrund besitzt? Es kann nicht sein, was nicht sein darf?
Angenommen es stellt sich noch heraus, dass der Angreifer Moslem sein sollte. Dann wäre es ein Fall von mutmaßlichem Antisemitismus durch einen Moslem. Zweifellos ein heißes Thema. Da verbrennt man sich mal lieber nicht zu schnell die Finger, mögen sich die Vordenker in den ORF-Nachrichtenredaktionen vielleicht gedacht haben. Dazu recherchieren wir lieber nicht allzu schnell, allzu viel und allzu tief.
Printmedien haben auch am Folgetag ihre Recherchen weitergeführt.
Der Zeuge Gilkarov betont laut „Die Presse“, dass der Angreifer nur Personen attackiert habe, die als Juden erkennbar gewesen seien.
Auch das Opfer Daniel S. sagt im ÖSTERREICH-Gespräch: „Ich glaube, dass dieser Angriff antisemitisch war, weil er nur Juden attackiert hat. Wir waren alle als Juden erkennbar.“
Wenn sowohl Zeugen, Betroffene als auch der IKG-Präsident von einem antisemitischen Motiv des Angreifers ausgehen, zu welchem Schluss wird die Staatsanwaltschaft nach Polizeirecherchen wohl kommen können?
Dass der ORF manchmal fähig ist, schneller über Vorfälle zu berichten, stellt er Freitag sowohl in der ZiB1 als auch in der ZiB2 unter Beweis, wo er über die Messerattacke in einem Bus in Lübeck vom Nachmittag berichtet und dabei nicht einmal unterschlägt, dass es sich bei dem mutmaßlichen Messerangreifer um einen im Iran geborenen deutschen Staatsbürger handelt.
Man sieht, es ginge ja doch. Nur bei heiklen Berichten in Österreich scheinen noch Scheren in den Köpfen der ORF-Strategen zu schnipseln.