ORF-Moderator Tarek Leitner hat sich seinem Freund Christian Kern wie ein Bettvorleger zu Füßen gelegt. Er hat Kern - um in seiner Sprache zu bleiben - eine Stunde eines unbezahlten und fast nie unterbrochenen Werbeauftritts im ORF "geschenkt" (zweifellos auf Wunsch seiner Chefs). Diese Stunde war ein totaler Kontrast zu dem Maschinengewehr-Sperrfeuer, das Leitner in den Wochen davor den schwarzen und blauen Parteichefs geliefert hat. Die heurigen Sommergespräche sind in Summe ein unglaublicher Missbrauch des eigentlich zur Ausgewogenheit verpflichteten Gebührenfunks. Ein neuer Tiefpunkt der Ära Wrabetz.
Während Leitner die schwarzen und blauen Parteichefs mit ständigen Unterbrechungen, mit häufigem Wortabschneiden und skurrilen "tatsächlichen Berichtigungen" zu stören versucht hat, hat er Kern fast beliebig lang reden lassen. Er hat wie der personifizierte Hofjournalist Kern praktisch völlig vor unangenehmen Fragen verschont und ist geradezu begeistert an deessen Lippen gehängt.
Leitner lieferte nur freundliche Stichworte und stellte mitfühlende Pseudo-Fragen wie : "Wieviel Kompromiss mussten Sie eingehen?" (unausgesprochene, aber für jeden Zuhörer klare Ergänzung: Weil die böse ÖVP nicht alles tat, was Sie wollten). Nicht angesprochen wurden hingegen:
Es gab nicht einmal den Hauch einer kritischen Beleuchtung des widerlichsten Wahlslogans der Nachkriegszeit: "Holen Sie sich, was Ihnen zusteht".
Es gab auch keine Frage, warum die SPÖ seit einem halben Jahr trotz des zunehmenden Terrorismus das von der Polizei verlangte Sicherheitsgesetz blockiert.
Es gab auch keine Frage nach der Transparenz der Finanzierung von Wahlkampfvereinen wie jenem, wo die Kern-Frau dabei ist.
Es gab natürlich schon gar keine Frage nach der Medienbestechung vor allem durch die Gemeinde Wien.
Das alles interessierte Leitner nicht. Dafür sprach er Dinge wie die Linksaußenforderung eines "bedingungslosen Grundeinkommens" an, und zwar mit erkennbarer Sympathie.
Dabei hat Kern mehr als jeder andere der vier vorher befragten Parteichefs in seinem Sommergespräch Anlässe zu tatsächlichen Berichtigungen gegeben. Um nur einige dieser Anlässe zu nennen:
Etwa als Kern zu behaupten wagte: "Wir sind am Weg zu einem echten Vorzeigeland" und noch frecher: "Die Maßnahmen, die ich durchgesetzt habe," hätten eine "echte Trendwende" ausgelöst, wobei er von der Arbeitslosigkeit bis zum relativen Rückgang der Massenmigration ohne Genierer ausdrücklich alles für sich in Anspruch nahm. - Kein Widerspruch des devoten Moderators zu all dem. Keine Frage, welche "Maßnahmen" Kerns denn das eigentlich gewesen sein sollen, die da binnen eines Jahres gewirkt hätten. - Kein Einwand, dass (mit Ausnahme des Ministers Doskozil) die ganze SPÖ noch immer eine eindeutige Pro-Migrations-Partei ist, die im Vorjahr auch bei der Balkansperre passiv am Rand gestanden ist. - Kein Hinweis, dass Österreich am Ende der schwarz-blau/orangen Zeit die niedrigste Arbeitslosigkeit der EU gehabt hatte, dass es heute hingegen im Mittelfeld liegt. - Keine tatsächliche Berichtigung, dass das gegenwärtige (mehr prophezeite als existierende Wachstum) eindeutig eine Folge eines globalen Konjunkturbooms ist, der ganz nach einer gefährlichen Blase aussieht, und der hemmungslosen Geldproduktion der EZB. - Keine Anmerkung, dass das Wachstum in allen mittelosteuropäischen Nachbarländern deutlich höher ist.
Etwa als Kern zu behaupten wagte: "Ich komme aus einem Unternehmen, wo es darauf ankommt, was am Ende rauskommt." Auch hier wieder kein Hinweis des Moderators, dass es bei den ÖBB am Ende nicht darauf ankommt, was herauskommt, sondern was aus dem Steuertopf an Milliarden hineinkommt.
Etwa als Kern allen Ernstes Italien als positives wirtschaftspolitisches Beispiel nannte und als er ausgerechnet den (sozialistischen) italienischen Regierungschef als einzigen Ausländer namentlich nannte, mit dem er ständig kommuniziere. Auch da gab es keine tatsächliche Berichtigung, keinen Hinweis, dass Italien nach Griechenland das wirtschaftlich am schlechtesten dastehende Land in der EU ist, dass es also ziemlich eigenartig ist, Italien als Vorbild zu nennen.
Etwa als Kern beim Thema Migration die Türkei lobt, ohne auch nur einen kritischen Halbsatz für jene Diktatur zu finden. Da hätte ein unabhängiger Moderator darauf hinweisen müssen, dass die Türkei heute selbst von den deutschen Sozialdemokraten schärfstens verurteilt wird (obwohl diese auch gerne die Stimmen der Türken hätten, aber offensichtlich mehr Anstand als Kern haben, trotzdem die Türkei offen zu kritisieren). Und dass der Migrantenstrom schon vor dem Türkei-Deal eben durch die von Kurz arrangierte Balkansperre und durch den Grenzzaun Viktor Orbans dramatisch zurückgegangen war.
Etwa als Kern die USA und die Schweiz als Beispiele für die Erbschaftssteuer anführte. Da hätte jeder unabhängige Journalist einwenden müssen, dass dort die Spitzensätze der Einkommensteuer (die also bezahlt wird, bevor Geld vererbt wird) viel, viel niedriger sind, was die Gesamtbelastung für die Leistungsträger trotz Erbschaftssteuer insgesamt deutlich niedriger macht.
Etwa als Kern behauptete, die Energiegesellschaften seien "die einzigen", die bei Einführung der von der SPÖ verlangten Wertschöpfungsabgabe mehr zahlen müssten, und als er sich an anderer Stelle berühmte, gerade "40 Milliarden für erneuerbare Energien" beschlossen zu haben. Da hätte jeder Journalist mit wirtschaftlichem Grundverständnis und ohne Bettvorlegerauftrag erstens darauf hinweisen müssen, dass das nach Ansicht aller Ökonomen nicht stimmt, sondern dass eine Wertschöpfungsabgabe eine massive Schädigung und damit Vertreibung der für die Zukunft so wichtigen Kreativ-Betriebe zugunsten der personalintensiven Handelsketten und Pizza-Dienste bedeutet. Und zweitens, dass, selbst wenn Kerns Behauptung nur teilweise richtig ist, er damit eindeutig eine gewaltige Verteuerung der Stromtarife als SPÖ-Plan angekündigt hat. Die vor allem Durchschnittsverdiener voll treffen würde.
Etwa als Kern neidschürend davon sprach, dass in einem Jahr die Dividenden um 30 Prozent, die Arbeitseinkommen nur um ein halbes Prozent gestiegen seien. Auch da hätte ein Interviewer mit minimalem Wirtschaftswissen sofort einhaken müssen: Aber in den Krisenjahren sind die Dividenden auch rapid abgestürzt und oft ganz ausgeblieben. Was bei den Arbeitseinkommen nie passiert ist.
Etwa als Kern die Teilnehmer der Massenmigration nach Österreich pauschal als Menschen bezeichnet, "die bleiben werden". Da hätte jeder Interviewer, der die Stimmung der Bevölkerung kennt, die Frage "Warum?" stellen müssen, hätte darauf hinweisen müssen, dass ja eigentlich nur rund die Hälfte formal Asyl bekommt, hätte auch auf die Anregung von Sebastian Kurz eingehen können, dass Gesetzgeber ja dazu da seien, einen rechtlichen Rahmen zu ändern, wenn zu viele kommen.
Und ganz besonders hätte jeder andere Journalist als Tarek Leitner die Chuzpe Kerns zurückgewiesen, als dieser mit höhnischem Hinhauen auf "den Außenminister", der anderes verbreite, davon sprach, dass er "als Kanzler" keine gemeinsamen Urlaube mit Leitner gemacht habe. Da aber Leitner naturgemäß darauf schon gar nicht einging, blieb ungesagt (was freilich ganz Österreich inzwischen weiß):
Dass es knapp vor Kerns Kanzlerzeit mindestens einen solchen gemeinsamen Urlaub gegeben hat.
Dass es auch in der Kanzlerzeit gemeinsame Urlaube der beiden Familien gegeben hat (wo halt jeweils einer der beiden Herren gefehlt hat).
Dass es mindestens zwei Begegnungen der beiden auf privater Ebene in Wien gegeben hat, einmal, als Leitner in der eigenen Wohnung eine "Buch-Party" veranstaltet hat; und das zweite Mal beim vertraulichen Gespräch in einem Nobelrestaurant.
Aber jeder andere Journalist hätte seine Rolle ja eben auch nicht als die eines Bettvorlegers gesehen. Denn jeder anständige Journalist würde wissen: Es darf keine Freundschaft eines guten Journalisten mit einem Politiker geben. Und wenn sich halt doch eine ergeben sollte (Politiker gieren ja danach!), dass ein anständiger Medienmensch dann den Charakter haben müsste, sich von diesem Politiker dort fernzuhalten, wo er unabhängig und objektiv sein müsste. Selbst wenn er den Auftrag seiner Vorgesetzten hat, parteiisch und einseitig zu sein. Das galt zumindest in Zeiten, da Journalisten noch eine Ehre hatten
Freilich – was rede ich da beim ORF von Charakter, Ehre und Anstand? Wahrscheinlich eine Alterserscheinung.