Die Folgen der Kernkraftkatastrophe in Tschernobyl im April und Mai 1986 behandelte die Sendung „Menschen und Mächte spezial“. Genau genommen war diese von Peter Liska und Gerhard Jelinek sehr gut gestaltete Dokumentation die späte Enthüllung eines unglaublichen Skandals, der die Verantwortungslosigkeit und Unverfrorenheit vieler Spitzenpolitiker entlarvte.
„Die SPÖ hat sich entschlossen und durchgerungen, die Maifeiern nicht abzusagen und das steht in einem gewissen Zusammenhang mit der Bundespräsidentenwahl“, erinnerte sich der frühere SP-Bundeskanzler Franz Vranitzky im Interview ganz offenherzig. Obwohl der SP-Spitze damals schon völlig klar war, welche Risken mit der Nicht-Absage des Maiaufmarsches 1986 in Wien verbunden waren, wurde der Mantel des Schweigens über die Gefahren gebreitet oder die drohenden Gefahren wurden nach allen Regeln der Kunst verharmlost. Der Maiaufmarsch war wichtiger Höhepunkt der Bundespräsidentenwahl am 4. Mai 1986, bei dem es galt, noch einmal für den SP-Kandidaten Kurt Steyrer zu mobilisieren. Diese Mega-Wahlveranstaltung wollte man unter keinen Umständen absagen.
Spätestens am 29. April hatten die Strahlenexperten im Reaktorforschungszentrum Seibersdorf Alarm geschlagen. Schon damals war die Strahlung über weiten Teilen Österreichs und das Risiko der herannahenden Strahlenwolken so groß, dass man die Empfehlung hätte ausgeben müssen, Häuser nach Möglichkeit nicht zu verlassen und auch Fenster nicht zu öffnen. Einigen Insidern waren schon am 28. April die enormen Risiken bewusst gewesen.
Bereits zwei Tage vor den Maiaufmärschen in Wien und anderen österreichischen Städten wäre es begründbar, verantwortungsbewusst und sinnvoll gewesen, die Maifeiern abzublasen. In der Nacht vom 30. April zum 1. Mai hätte man unbedingt absagen MÜSSEN, denn in dieser Nacht ließen Regenfälle erhebliche Mengen an radioaktiven Stoffen auf Österreich niederprasseln.
Der damalige Gesundheitsminister Franz Kreuzer, früherer Chefredakteur der Arbeiterzeitung und später ORF-Direktor, fand in einem Interview seine Entscheidung noch immer völlig richtig. „Dass es sich zufällig in der Nacht zum 1. Mai so zugespitzt hat, hatte mit der Parteipolitik des 1. Mai nicht das geringste zu tun“, verriet er dem staunenden Publikum. Er habe als Gesundheitsminister die Verantwortung für diese Entscheidung getragen, meinte er stolz. Die Frage drängt sich auf, was denn noch hätte passieren müssen, damit die SPÖ auf ihren Maiaufmarsch verzichtet.
Obwohl der SP-Regierungsspitze in der Nacht zum 1. Mai schon völlig klar war, dass man angesichts der erhradioaktiven Niederschläge für die nächsten Tage eine Ausgangssperre oder zumindest eine Ausgangswarnung hätte verhängen müssen, zog man Maiaufmarsch und Bundespräsidenten-Wahlveranstaltung gnadenlos durch. Kreuzers schwache Rechtfertigung: „Eine Absage hätte ja eine ungeheure Panik verursacht.“
Der damalige FP-Regierungspoltiker Norbert Steger erinnerte sich im Interview für „Menschen und Mächte“ ganz trocken: „Es ist damals nach Strich und Faden gelogen worden.“ Ihm als Regierungsmitglied gegenüber habe man auch verharmlost und beschwichtigt.
Das war vor 30 Jahren. Leider ist zu befürchten, dass in dramatisch kritischen Situationen Regierungspolitiker auch heute wichtige Informationen verschweigen und beschwichtigen würden. Beispiele, bei denen man sich dieses Eindrucks aktuell nicht erwehren kann, gibt es erschreckend viele.