Es scheint, als habe sich im ORF zumindest die „Im Zentrum“-Redaktion neu orientiert. Schon zum zweiten mal in den letzten Wochen war die Runde der Diskussionsteilnehmer nicht aus fast lauter Links-Grünen und einem (oder einer) Bürgerlichen zusammengesetzt, der die Aufgabe des Prügelknaben (oder des Prügelmädels) zu erfüllen hatte. Im Gegenteil: Es war eine spannende Runde mit Innenministerin Johanna Mikl-Leitner, dem ungarischen Sozialminister Zoltán Balog, Südtirols Landeshauptmann Arno Kompatscher, Giorgos Chondros, Mitglied des Zentralkomitees der griechischen Regierungspartei Syriza und der grünen EU-Parlaments-Vizepräsidentin Ulrike Lunacek.
Dass nicht die im Diskussionskrieg geschulte linken Ideologen die Mehrheit hatten, tat der Diskussion gut. Die Meinungen prallten heftig aufeinander – da kämpfte wirklich jeder gegen jeden. Da durften sogar der ungarische Fidesz-Politiker oder der griechische Syriza-Vertreter ihre Argumente äußern, ohne dass ihnen jemand sofort ins Wort gefallen wäre.
Ungarn habe sich an die EU-Gesetze gehalten und sei von der internationalen Presse (vor allem den österreichischen Medien) dafür ungerecht behandelt worden, klagte Zoltán Balog. Da kam sogar die Grüne Ulrike Lunacek zur Erkenntnis, dass „immer die anderen schuld sind“. Ohne gemeinsame Lösung werde Europa auseinanderbrechen. Auch der Grieche Giorgos Chondros durfte unwidersprochen die Meinung äußern, die EU-Politik sei gescheitert. Auch Südtirols Landeshauptmann Kompatscher unterstrich, dass Schengen einzuhalten sei und warnte eindringlich, dass ohne gemeinsame europäische Lösung die EU zerfallen werde.
Ganz konnte die „Im Zentrum“-Regie auf alte Gewohnheiten nicht verzichten. Immer wieder wurde Frau Lunacek groß ins Bild gerückt, wenn sie zu Äußerungen anderer Diskussionsteilnehmer missbilligend den Kopf schüttelte und bei ORF-Bildbeiträgen über den Flüchtlingsansturm gab es wieder vorwiegend Mütter mit Kindern zu sehen, aber kaum die jungen Männer, aus denen die Asylantenschar hauptsächlich besteht. Auch ein Bild von Kanzler Werner Faymann an der Seite der deutschen Kanzlerin Angela Merkel fehlte nicht. Ihr leicht angewiderter und entnervter Gesichtsausdruck in Richtung Faymann war dabei besonders sehenswert. Allein dafür lohnt es sich, die Diskussion in der ORF-TV-Thek anzusehen. (http://tvthek.orf.at/program/Im-Zentrum/6907623/IM-ZENTRUM-Aus-der-Traum-vom-grenzenlosen-Europa/12032).
Nicht einmal Johanna Mikl-Leitner fielen die Diskussionsgegner wütend ins Wort, als sie grollte, dass Italien und Griechenland „großartig im Durchwinken von Asylanten“ gewesen seien. „Wir müssen wegkommen von der illegalen unkontrollierten Migration zu einer kontrollierten legalen Migration.“ Jedenfalls müssten die EU-Außengrenzen besser gesichert werden. Gerettete Bootsflüchtlinge müsse man zwar retten, sollte sie aber dann wieder in die Türkei zurückbringen. Mikl-Leitner: „Das würde den Schleppern die Grundlage entziehen.“
In Summe vermittelte die spannende Diskussion den Eindruck, den auch das jüngste Gipfeltreffen der EU-Länder hinterlassen hatte: Europas Politiker sind ratlos und eine Lösung ist weit und breit nicht in Sicht. Und allen jenen, die beteuerten, sie seien trotz aller Probleme optimistisch, sah man an, dass sie daran in Wahrheit nicht einmal selbst glauben. Die Diskussion war lebendig und weitgehend ausgewogen, aber bei den Zusehern und -hörern musste sie Angst und Unbehagen hinterlassen.