Ö1 beweist im Beitrag „Betrifft: Geschichte“ von Mittwoch wieder einmal in seiner ideologischen Konsequenz eine eindrucksvolle Blindheit am linken Auge. Zugegeben, in einer Werbeeinschaltung – oh, verzeihen Sie – „Sendereihe“ über das Rote Wien ist das irgendwo vorprogrammiert. Da wird eben ein rosiges Bild gezeichnet von der wunderbaren Vision des „neuen Menschen“ auf der linken Seite vor dem Kontrast der dunklen verstockt reaktionären Christlichsozialen, die die guten Sozialdemokraten bei der Verwirklichung ihrer hehren Gesellschaftsideale bösartigst bekämpfen.
Das erste, was der Historikerin Lilli Bauer zu diesem Thema einfällt, sind natürlich die antisemitischen Poltereien der Christlichsozialen. Natürlich sticht dieser Punkt dem Betrachter von heute besonders ins Auge, zumal wir alle wissen, wohin das letztlich geführt hat. Den ursächlichen Zusammenhang zwischen geschmacklosen Querschüssen im politischen Kleinkrieg und Ausschwitz 20 Jahre später könnte man ganz leise in Zweifel ziehen, da Christlichsoziale und Nazis auch spinnefeind waren. Aber das würde vermutlich zu weit führen.
Vielleicht wären der Historikerin einige andere Dinge zum Thema Sozialdemokraten und Christsozialen eingefallen, wenn sie die postmoderne Brille einen Moment abgenommen hätte. Da hätte man erwähnen können, dass sich in Österreich, anderes als in den meisten anderen Staaten, die Arbeiterbewegung nicht konsequent in parlamentarisch gesinnte Sozialdemokraten und revolutionäre Kommunisten gespalten hat. Also saßen in der SDAP nicht nur wohlmeinende Genossen, die ein bisschen Mieterschutz hier und ein bisschen 8-Stunden-Tag da gefordert haben. Sie hatten vielmehr genügend Gesellschaft von ausgewiesenen Marxisten, die jedes Detail unseres Lebens radikalst umstürzen wollten: Eigentum, Religion, Familie, alles. Philosophisch macht es eine ganze Menge Sinn, wenn Vertreter der Christlichsozialen ihren Wählern immer wieder in Erinnerung rufen, dass der Marxismus sich mit dem Christentum kein Stück verträgt. Der fundamentale Werteunterschied ergibt sich zwar daraus, dass die SDAP-Vordenker eher atheistisch sind und nicht jüdisch, aber eine Wahlveranstaltung ist eben kein Philosophieseminar für höhere Semester.
Aber lassen wir diesen Wehret-den-Anfängen-Vorwurf gegen die Christlichsozialen mal so stehen. Buddhisten haben das Om mani padme hum, Christen das Credo, jeder braucht eine identitätsstiftende Formel; der Schreiber dieser Zeilen hat dafür Verständnis und bekennt: Antisemitismus ist böse!
Die Redakteure klammern gekonnt die großen Knackpunkte zwischen den beiden politischen Lagern wie die Forderung nach der Abschaffung von Privateigentum und Kapital von der einen, und die eines ausgeglichenen Budgets auf der anderen Seite aus. Überhaupt wird mit keinem Wort erwähnt, dass Modell des „neuen Menschen“ in all seiner Konsequenz ein Frontalangriff auf die bürgerlich-liberale Gesellschaftsordnung der damaligen Zeit war.
Lieber beschäftigen sie sich mit einem wörtlich „nur kleinen Aspekt“ wie die von der SDAP initiierten Mutterberatungsstellen, wo man Arbeiterinnen, „die das Wort Hygiene nicht einmal aussprechen konnten“, anscheinend das Waschen und Kampeln aufklärerisch erst beibringen musste. Also, mein sechsjähriger Neffe hat „Hygiene“ vielleicht auch nicht in seinem aktiven Wortschatz, muss ich ihn bei Gelegenheit mal fragen, aber Duschen und Zähneputzen kriegt er trotzdem schon picobello ganz alleine hin.
Vermutlich hat die Damen damals weniger interessiert, wie man eine Seife benutzt, als wie man, wie der Beitrag es ausdrückt, „die vierte, fünfte Schwangerschaft verhindert; ein Tabubruch, für das katholisch Restösterreich“. Ein Tabubruch ist die grundsätzliche Frage weiß Gott nicht. Ich weiß zwar nicht seit wann genau die Menschheit den Bogen raus hat, dass wir Mädchen nur an bestimmten Tagen unseres Zyklus schwanger werden, aber die Kirche empfiehlt auf jeden Fall schon seit Jahrhunderten, sich an eben diesen Tagen nur aufs Bussi geben zu beschränken und liefert seit dem Mittelalter dafür hilfreiche Tabellen. Der Schreiber dieser Zeilen beweist zwar durch seine schlichte Existenz, dass diese Methode keine hundertprozentige Garantie ist, aber als jüngstes von drei Kindern kann ich bestätigen, dass ganze Fußballmannschaften so eher selten zustande kommen.
Mein absoluter Favorit der Sendung kommt aber erst. „Unter Julius Tandler wurde auch eine Eheberatungsstelle etabliert. Diese Eheberatungsstelle hatte zur Aufgabe, sie von vorne herein zu beraten, ob sie aufgrund ihrer körperlichen Voraussetzungen Kinder zeugen sollten. Das sei ihnen natürlich unbenommen, dass sie heiraten und natürlich, dass sie ihr Geschlechtsleben ausleben. Aber man hat versucht zu verhindern, dass sich Menschen, die ungünstigen Voraussetzungen mitbringen, sich vermehren.“
Nennen wir das Kind doch bitte beim Namen: Eugenik. Julius Tandler war Universitätsprofessor und Arzt und meinte, wie damals recht viele fortschrittlich Denkende, die sich befreit fühlten vom reaktionären christlichen Diktat der absoluten Unantastbarkeit der Menschenwürde, dass Menschen vor allem mit geistiger Behinderung sich vielleicht besser nicht allzu zahlreich fortpflanzen sollten, zum Wohle der Gesellschaft. Die einschlägigen Zitate zu dem Thema erspare ich dem werten Leser. Sie sind für den heutigen Betrachter, ähnlich verstörend wie die Verunglimpfung der Juden jener Zeit, zumal wir alle auch ich diesem Fall wissen, wohin das letztlich geführt hat.
Auch wenn zwischen den theoretischen Überlegungen von Julius Tandler über „lebensunwertes Leben“ und was diese „Vollidioten“ den Staat jährlich kosten und der praktischen Umsetzung der Rassenhygiene der Nazis ein weiter Weg ist, und ich beiden keineswegs in einen Topf werfe, wäre ein ansonsten ausführlichst getrommeltes Wehret-den-Anfängen auch in diesem Fall angebracht.
Ist doch interessant: Wenn ein Schwarzer einen Vertreter der politischen Gegenpartei verbal grob angreift, ihn tatsachengemäß einen Juden heißt und das zu einer negativen Eigenschaft ausschmückt, diesem einen Juden geschmackloserweise den Tod wünscht und die Nationalsozialisten später Juden systematisch verfolgen, dann kommt auf Ö1 der große Aufschrei. Diese antisemitischen Christsozialen, da hat’s schon angefangen – Skandal! Wenn ein Roter das „Volksbewusstsein“ fördert, dass geistig behinderte Menschen lebensunwertes Leben sind, zum Wohl des lebenswerten Lebens geopfert werden sollen, weil sie dem Staat zu viel Geld kosten, und die Nazis später genau das tun, dann - … nichts. Stille. Kein Aufschrei. Keine Differenzierung oder Erläuterung, so haben damals viele Ärzte und Sozialreformer gedacht, doch aus den Erfahrungen der Nazi-Zeit müssen wir uns klar von solchen Gedanken abgrenzen, denn ihre diktatorische Durchführung haben ihre menschenverachtende Konsequenz deutlich gemacht. Keine Silbe.
Vielleicht kommt das noch in der Schlussbetrachtung zur Sendereihe zum Roten Wien. Wenn die objektiven Historiker doch ganz bestimmt darauf hinweisen werden, dass das damals angestrebte Ideal des „neuen Menschen“ tatsächlich verwirklicht wurde, endlich, nach dem Zweiten Weltkrieg im östlichen Teil Europas und Millionen von Menschen in den Genuss einer neuen Welt gekommen sind ohne Antisemitismus, ohne Antimodernismus und ohne liberale rechtsstaatlichen Gesellschaftsordnung. Julius Tandler durfte sie übrigens noch kennen lernen, bevor er 1936 in Moskau verstarb.